Im Dschungel West-Papuas den Mythen auf der Spur


Legenden berichten von Kannibalen in West-Papua. Aber nicht Menschenfresser, sondern Plantagen und Bergbau bedrohen die Urbevölkerung.

Große Teile des Dschungels in West-Papua, der zu Indonesien gehörenden Westhälfte Neuguineas, sind aufgrund ihrer schweren Zugänglichkeit bis heute unerforscht. Foto: Dominik Wlodarczak Fotoquelle: welt.de
Große Teile des Dschungels in West-Papua, der zu Indonesien gehörenden Westhälfte Neuguineas, sind aufgrund ihrer schweren Zugänglichkeit bis heute unerforscht. Foto: Dominik Wlodarczak Fotoquelle: welt.de

Keine Straßen, Häuser, Pflanzungen oder andere Spuren der Zivilisation sind zu sehen, während die kleine Propellermaschine dröhnend über den endlosen Dschungel West-Papuas gleitet. Große Teile dieser atemberaubenden Natur bleiben aufgrund ihrer schweren Zugänglichkeit bis heute unerforscht. Dass im Inneren der zu Indonesien gehörenden Westhälfte Neuguineas überhaupt Menschen leben, entdeckte erst 1938 Richard Archbold während einer Expedition. Das erklärt die abenteuerlichen Vorstellungen von archaischen Stämmen, Kannibalismus und Geistern, die der unerforschte Urwald und die isolierten Bergtäler hervorrufen. Bei einem Treck in den Dschungel zwischen Idenburg River und zentralem Hochland wollen wir diesen Mythen auf den Grund gehen.

Nach der Landung auf einer Graspiste, die mitten im dichten Regenwald einer steil abfallenden Bergflanke liegt, heuern wir einige Träger an und brechen auf. Die Fortbewegung im morastigen Dickicht ist äußerst mühsam. Unzählige umgefallene Bäume, ein Wirrwarr schlüpfriger Wurzeln, scharfkantige Blätter, dornige Büsche und tiefe Gräben versperren den Weg. Die Dschungelpfade führen in stetigem Auf und Ab von einem Bergkamm zum nächsten und zehren in der feuchten Hitze an den letzten Kräften. Schnell erweisen sich die gelegentlichen Bergtouren in den Schweizer Alpen als völlig untaugliche Vorbereitung auf dieses zerklüftete Gelände.

Bald ist der Regenwald verschwunden

So unversehrt wie hier gedeiht der Regenwald längst nicht mehr überall in West-Papua. Nachdem Holz-, Papier- und Palmölgesellschaften Sumatra und Borneo fast vollständig rodeten, wüten die Kettensägen nun auch hier. 1950 war die Region fast noch vollständig von Regenwald überwuchert, heute bedeckt er noch 70 Prozent. Auswertungen von Satellitenbildern zeigen, dass der Urwald in etwa 15 Jahren verschwunden sein wird, mit Ausnahme einiger Gebiete des Hochlandes, wo das unwegsame Gelände den Kahlschlag verhindert. Neben illegalem Holzschlag sind auch die zunehmenden Palmölplantagen und die Förderung von Bodenschätzen für das Verschwinden des Primärwalds verantwortlich. Korruption und wirtschaftliche Interessen – auch des Militärs – verhindern einen wirksamen Schutz der Umwelt.

Wir schlagen unser Nachtlager jeweils in kleinen Dörfern oder einfachen Unterständen mitten im Dschungel auf. Ein Bad in den klaren Wildbächen bietet nach einem anstrengenden Tag zwar eine willkommene Abkühlung, lohnt sich aber kaum, denn schon nach wenigen Metern ist man wieder durchgeschwitzt und mit Schlamm verschmiert. Während wir uns von mitgebrachtem Reis oder Nudeln ernähren, verköstigen sich die Papuas mit dem, was der Regenwald hergibt – darunter Wildschweine, Sagoschleim, Frösche, Echsen, Süßkartoffeln oder Raupen. Das beschränkte Angebot an Proteinquellen erlaubt es nicht, besonders wählerisch zu sein. Obwohl die Papuas mit der Natur im Einklang leben, führen sie ein äußerst entbehrungsreiches Dasein, gekennzeichnet von kurzer Lebenserwartung, hoher Kindersterblichkeit, Mangelernährung und tödlichen Krankheiten wie Malaria.

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Die Kannibalen bleiben ein Mythos

Kopfjagd und Kannibalismus scheinen fester Bestandteil des Alltags zu sein. Unserem Führer Milis zufolge frönte auch sein eigener Stamm, die Kymial, bis vor wenigen Jahren dieser Tradition, einschließlich seiner Eltern. Uns beruhigt es zu erfahren, dass Milis selbst bisher noch keinen Appetit auf Menschenfleisch verspürte. Informationen über Kannibalismus stammten aber lange nur aus zweiter oder dritter Hand, nie konnte ein solcher Fall durch einen Außenstehenden beobachtet werden – bis dann in den 70er-Jahren der amerikanische Forscher Dr. Gajdusek erstmals Augenzeuge eines solchen Rituals gewesen sein will. Dies gelang ihm nach eigener Aussage beim Stamm der Fore, wo er umfangreiche Feldstudien zum Kuru Virus, einer Art Rinderwahn, unternahm. Gajdusek führte die Verbreitung der Krankheit auf Rituale der Eingeborenen zurück, das Gehirn infizierter Stammesangehöriger zu essen. Obwohl der Nobelpreisträger glaubwürdige Beweise schuldig blieb, hielt er unbeirrt daran fest, kannibalistischen Praktiken beigewohnt zu haben. Nachdem unzählige Forscher seit Jahrzehnten keine belastbaren Fakten zutage fördern konnten, bleiben die Menschenfresser Neuguineas aber weiterhin ein Mythos.

Nach mehreren äußerst erschöpfenden Tagesmärschen, zermürbt durch die pausenlosen Attacken von Ungeziefer, geschwächt durch die dürftige Ernährung und fiebrig von der feuchten Hitze erreichen wir die Siedlung Sekame. Als wir uns dem Dorf nähern, taucht plötzlich eine Gruppe Krieger auf. Abgesehen von den Penisköchern nackt, mit Pfeil und Bogen im Anschlag, rhythmisch schreiend, kommen sie im Laufschritt frontal auf uns zu. Der unerwartete Ansturm der Krieger lässt das Blut in unseren Adern gefrieren, wir schwanken zwischen Faszination und Fluchtreflex. Was sind das für Menschen? Was löst unser Eindringen in ihr Dorf aus? Was haben sie mit uns vor? Die Krieger beginnen uns unter unablässigem Geschrei zu umkreisen. Nach einer Weile bleiben sie stehen, die Rufe verebben. Ihre düsteren Gesichter nehmen freundlichere Züge an, eine Gruppe von Frauen im Bastrock gesellt sich dazu, unsere Träger nehmen das Gespräch auf, und die Lage entspannt sich. Wir scheinen offensichtlich nur die Opfer eines Willkommensritus geworden zu sein und keines feindlichen Überfalls.

Einheimische werden systematisch ausgebeutet

Ihre einfachen Waffen setzen die Krieger von Sekame nur noch zur Jagd ein. Das ist bei den Papua Rebellen der OPM, die sich seit 40 Jahren erfolglos gegen die gewaltsame Annexion durch Indonesien wehren, anders. Seit 1969 kolonisiert Jakarta West-Papua mit unzimperlichen Militäraktionen, durch staatlich geförderte Einwanderung indonesischer Siedler und Assimilation der als primitiv erachteten indigenen Kultur. Systematisch werden die Einheimischen ausgebeutet sowie politisch und kulturell marginalisiert. Mit bisher über 100.000 Toten forderte diese Politik einen hohen Blutzoll und zeigt, wo sich die eigentliche Archaik im Dschungel Neuguineas abspielt. Wie es bereits ein Berater Kennedys auf den Punkt brachte, wollen die großen Weltmächte ihre Beziehung zu Indonesien nicht wegen „einigen Meilen Kannibalenland“ aufs Spiel setzen. Mit dem enormen Rohstoffreichtum in West-Papua stehen für Indonesien und seine Verbündeten zu bedeutende wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel.

So wie der französische Ethnologe Claude Lévy-Strauss in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts enttäuscht darüber war, ein nicht mehr unberührtes Amazonasgebiet vorzufinden, mussten auch wir uns im Dschungel West-Papuas davon überzeugen, dass das Archaische, Unberührte unaufhörlich der Modernisierung weicht. Mit der blutigen Verfolgung, Ausbeutung und kulturellen Marginalisierung haben die Papuas bisher nur die schmerzlichen Seiten der heranwachsenden Zivilisation erfahren. Freude über ein neues, besseres Leben verspürte bisher niemand, denn der Fortschritt entpuppte sich allein als Kind der Anderen.

Originalbericht: welt.de
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